In einem Grazer Gymnasium läuft ein ehemaliger Schüler Amok, tötet mindestens zehn Menschen und sich selbst. Das offizielle Österreich hält den Atem an, Regierungsmitglieder sagen Termine ab und fahren nach Graz. Auch Veranstaltungen werden abgesagt, eine jedoch spontan noch am selben Abend abgehalten: Ein Gottesdienst in Graz. Am nächsten Tag ein zweiter im Stephansdom, die Bundesregierung und der Bundespräsident sind “natürlich” dabei.
So war das bei Katastrophen und Tragödien jahrzehntelang in Österreich üblich. Damals, in einem Land mit absoluter katholischer Mehrheit, wurde es auch nicht hinterfragt. Das ist aber nicht mehr das Österreich, in dem wir leben.
In größeren Städten Österreichs gibt es schon länger keine katholische oder christliche Bevölkerungsmehrheit. Schon gar nicht in einem Gymnasium. Die religiösen Bekenntisse der Opfer und Familien, falls überhaupt vorhanden, waren noch unbekannt, aber der katholische Gottesdienst wurde bereits eilig vorbereitet. Mit dabei die anwesenden Regierungsmitglieder, die allesamt nicht als besonders religiös bekannt sind. Sie geben damit einer Veranstaltung, die mit den Opfern kaum etwas zu tun hat, einen offiziellen Anstrich. Was haben Regierungsmitglieder im Gottesdienst zu suchen? Wem wollen sie damit helfen, wem etwas beweisen?
Religiöses Monopol auf Trauer und -bewältigung?
Psychologisch geschulte Expert:innen waren so schnell es ging vor Ort im Einsatz und betreuen die Angehörigen und anderen Betroffenen. Individuell und ohne religiösen Hintergrund, bei Bedarf mit Rücksicht auf eventuelle religiöse Gefühle. In vielen Schulen österreichweit reden Pädagog:innen mit ihren Schüler:innen über die Ereignisse und helfen ihnen, das medial Erlebte, das Mitgefühl, die Angst aufzuarbeiten. Das ist Hilfe.
Der angeblich säkulare Staat hat keinen Plan, den seine Vertreter:innen in so einem Fall aktivieren, um möglichst nützlich zu sein und den Betroffenen schnell und effektiv helfen zu können. Dabei wäre das genau die Aufgabe der Politik, dafür bezahlen wir sie. Ihr Versäumnis führt dazu, dass sofort das opportunistische Angebot einer Organisation, die den Anschein von wirkungsloser Hilfeleistung perfektioniert hat, angenommen wird. Regierungsmitglieder, die sonst nie in eine Kirche gehen oder beten, erscheinen pflichtbewusst im Gottesdienst, die Medien berichten.
Vor hundert Jahren gab es nur die Möglichkeit religiöser Eheschließungen. In der Zweiten Republik wurde die Zivilehe eingeführt. Heute wird die Mehrzahl der Ehen standesamtlich geschlossen. Die Republik hat den Rahmen geschaffen, würdige und ergreifende Feiern für alle abzuhalten. Wer will, kann zusätzlich die religiösen Angebote nutzen. So muss es auch bei Staatstrauer sein.
Es ist vorstellbar, dass einzelne katholische Verletzte oder Angehörige von Verstorbenen aus den Angeboten der katholischen Kirche einen Nutzen für sich ziehen, zumindest eine Art Beruhigung, eine Hoffnung, egal wie trügerisch die sein mag. Für die große Mehrheit in Österreich und speziell im Kreis der Betroffenen ist jedoch schon die Zielsetzung eines katholischen Gottesdienstes eine Beleidigung.
Wird fürs “Seelenheil” der Verstorbenen gebetet, beruht das auf der menschheitsfeindlichen Hassrede vom “sündigen Menschen”, die nur durch die Zugehörigkeit zur “richtigen” Religion “erlöst” werden können. Implizite Annahme: Wer von den Getöteten nicht zu uns gehört und nicht nach unseren Vorstellungen lebt, wird ewig in der Hölle schmoren.
Das fällt unter die Religionsfreiheit, und wer dieser Ansicht ist, soll ruhig solche Gottesdienste abhalten oder daran teilnehmen. Aber die Mitglieder der Bundesregierung, die für alle Menschen in Österreich, also auch für die nicht katholische Mehrheit, zuständig sind? Die einen Eid auf die Verfassung geschworen haben, legitimieren solche menschenverachtenden, gesellschaftsfeindlichen Veranstaltungen? Das passt nicht.
Wir brauchen dringend etwas Besseres. Ein staatliches Angebot, das die Mehrheit der Gesellschaft nicht vor den Kopf stößt, hinter dem alle Bürger:innen mit guten Absichten stehen können. Die Geduld, dass die Regierungsmitglieder sich nicht sofort in den Vordergrund stellen, sondern die Expert:innen arbeiten lassen. Objektive Analysen, eine Bewertung der Ereignisse, glaubwürdige Maßnahmen, damit so etwas in Zukunft nicht oder weniger oft passiert.
Andere tun es schon
Ein Schritt in die richtige Richtung fand gleich am nächsten Tag in Graz statt: Ein großer zivilgesellschaftlicher Zusammenschluss von der Kommunistischen Jugend über die Gewerkschaftsjugend bis hin zur Katholischen Jungschar und der Gemeinschaft Junger Muslime traf sich am Grazer Hauptplatz. Jene Altersgruppe, die ohne Rücksicht auf weltanschauliche Unterschiede das Einende, die gemeinsame Betroffenheit ausdrücken konnte. Abwesend: Mitglieder der Bundesregierung. Die waren ja schon auf dem Weg zum offiziellen Ende der dreitägigen Staatstrauer. In den Stephansdom, zum “überkonfessionellen Gottesdienst” in den katholischen Dom, unter Leitung des katholischen Bischofs Lackner, mit Vertretern anderer christlicher Konfessionen. Live übertragen im Österreichischen Rundfunk. Originalzitat: “Die Staatstrauer endet heute um 19 Uhr mit diesem Gottesdienst” – kündigt Josef Grünwidl, “Apostolischer Administrator” an. Für die Staatstrauer ist aber der Staat zuständig, das Ende müssen seine Vertreter:innen bestimmen und ankündigen. Nicht jemand von der ehemaligen Staatskirche.
Die österreichische Bundesregierung und der Bundespräsident senden damit ein problematisches Signal: Staat und Kirche sind nicht getrennt, sondern in schweren Momenten für Österreich folgt die politische Elite der “Einladung” einer Religionsgemeinschaft, um die Trauer auszudrücken und zu bewältigen.
Wann werden wir eine Bundesregierung sehen, die das nicht mehr reflexartig macht, und sich etwas Eigenes überlegt, etwas, was den eigenen Überzeugungen und denen der Wähler:innen entspricht?