Für den Gesetzgeber tickt die Uhr. Bis zum 31. März muss er eine Neuregelung des ORF-Gesetzes beschließen. Aus diesem Anlass habe ich in den vergangenen Wochen noch vor der Regierungsbildung alle 183 Nationalratsabgeordnete und 61 Bundesratsabgeordnete persönlich kontaktiert und mit einer simplen Frage konfrontiert: Wären sie notfalls bereit, die katholischen und evangelischen Privilegien im ORF-Publikumsrat durch einen Anfechtungsantrag beim Verfassungsgerichtshof zu beseitigen?
Zum Anfechtungsrecht der Parlamentsabgeordneten und zum verfassungswidrigen ORF-G
Im Rahmen der sogenannten abstrakten Normenkontrolle dürfen ein Drittel der Nationalratsabgeordnete oder ein Drittel der Bundesratsabgeordnete Bundesgesetze beim Verfassungsgerichtshof anfechten.
Der österreichische Gesetzgeber ist von Verfassung wegen zur religiösen und weltanschaulichen Neutralität verpflichtet. Im österreichischen Staatskirchenrecht gilt der Grundsatz der Trennung von Staat und Kirche, vom Verfassungsgerichtshof längst in Stein gemeißelt (vgl. VfGH, G4/2020-27; G287/09).
Es besteht kein Zweifel, dass die Bestimmungen § 28 Abs. 3 Z 3 und Z 4 ORF-G verfassungswidrig sind: Sie räumen ausschließlich der katholischen und evangelischen Kirche das Recht ein, im Publikumsrat des ORF ihre Interessen zu vertreten. Allen anderen anerkannten Kirchen und Religionsgemeinschaften bleibt dieses Recht im österreichischen Leitmedium verwehrt. Allein deswegen sind diese Privilegien diskriminierend und verstoßen gegen den Gleichheitssatz und dem Gebot der religiösen Neutralität. Und auch die große Gruppe der Konfessionsfreien darf nur zuschauen, wie religiöse Gruppen im ORF ihre Interessen wahrnehmen.
Die Bestellungsregel ist auch unsachlich, wie sich aus der Statistik ableiten lässt: Obgleich Orthodoxe (ca. 4,9%), Muslime/Aleviten (ca. 8,4%) und Konfessionsfreie (ca. 32,4%) einen deutlich höheren Anteil an der österreichischen Bevölkerung als die evangelische Kirche (ca. 2,7%) besitzen, dürfen sie keine Vertreter in den Publikumsrat entsenden. Etwa 250.000 Evangelische haben einen Interessenvertreter im ORF, während knapp 3 Millionen Konfessionslose, ca. 773.000 Muslime/Aleviten und rd. 450.000 Orthodoxe außen vor bleiben.
Zur Nicht-Reaktion der Abgeordneten
Inhaltliche Antworten erhielt ich – wenn überhaupt – nur von jenen Abgeordneten, die einen Parlamentsklub oder eine Organisation vertreten. War auch ein Mut des einfachen Abgeordneten zur Gewissensentscheidung zu bemerken? Fehlanzeige! Niemand wagte eine klare Position.
Die Mitglieder des Bundesrates glänzten durch völlige Abwesenheit, obgleich auch sie das Recht (und die moralische Pflicht) haben, verfassungswidrige Bundesgesetze beim Verfassungsgerichtshof anzufechten.
Die Antworten der Parlamentsklubs
NEOS
Die NEOS lieferten die ausführlichste Antwort, doch fiel sie überraschend negativ aus. Sie gestehen ein, dass “Unausgewogenheit bei der Zusammensetzung des Publikumsrats” besteht, lehnen jedoch einen Anfechtungsantrag ab. Stattdessen plädieren sie für ein „völlig neues Modell” mit einem diverseren Gremium. Warum das eine das andere ausschließen sollte, bleibt rätselhaft.
GRÜNE
Die GRÜNEN gestehen immerhin ein, dass es einen „Missstand” darstellt, wenn nur zwei Kirchen im Publikumsrat vertreten sind. Doch auf die Nachfrage, ob sie einen Aufhebungsantrag unterstützen würden, blieb die Antwort aus. Sie beklagen den Missstand, scheuen aber konkrete Maßnahmen.
SPÖ
Der stellvertretende Klubvorsitzende der SPÖ jongliert mit Begriffen wie „Evaluierung” und dem Ziel einer „bestmöglichen Repräsentanz unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen”. Ein offenes Bekenntnis gegen die Vorrechte der christlichen Kirchen gab es nicht. Der Parlamentsklub scheint zu vermeiden, dem Wiener Bürgermeister zu verärgern, der bekanntlich den Kirchen, aber nicht den Konfessionsfreien wohlgesonnen ist.
ÖVP
Nach Fristablauf kam eine Antwort des ÖVP-Mediensprechers: „Die Zusammensetzung und Regelungen des ORF-Publikumsrats sind Gegenstand unterschiedlicher rechtlicher und gesellschaftlicher Betrachtungen.” Ohne Kommentar.
FPÖ
Keine Antwort.
Fazit
Die spärlichen Antworten deuten an, dass das Problem verstanden wurde. Und doch sind die von uns gewählten Volksvertreter unwillig, selbstbewusst jene notwendigen Maßnahmen zu treffen, die zu einem religiös und weltanschaulich neutralen ORF-Gesetz führen würden.
Up-Date: Das Regierungsprogramm von ÖVP, SPÖ und NEOS nimmt zwar auf den ORF prominent Bezug, enthalten aber keine Hinweise darauf, dass die Privilegien in Bezug auf die katholische und evangelische Kirche abgeschafft werden sollen.
Demokratie lebt von Mut und der Bereitschaft, für Überzeugungen einzustehen. Unsere Abgeordneten, egal welcher Fraktion, versagen darin kläglich. Keiner will für sich selbst entscheiden. Das österreichische Parlament bleibt im Schatten der christlichen Kirchen und diskriminiert weiter.
Rechtsanwalt i.R Dr. Clemens Lintschinger, MSc