Unter diesem Titel fand Ende Oktober in Berlin eine Tagung anlässlich des 20. Jahrestages der Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland (fowid) statt. Für den österreichischen Zentralrat der Konfessionsfreien war Balázs Bárány, auch fowid-Mitglied, dabei. Bei der Tagung versammelte sich die konfessionsfreie Szene Deutschlands aus dem Umfeld der Giordano-Bruno-Stiftung (fowid, Humanistischer Pressedienst, Institut für Weltanschauungsrecht) mit Gästen aus Forschung, Politik und Religionsgemeinschaften.
Neben fowid selbst wurde auch der Gründer Carsten Frerk, kürzlich 80 Jahre alt geworden, geehrt. Aber der Fokus lag nicht am Feiern, sondern an hochkarätigen Vorträgen und Diskussionen.
fowid recherchiert und publiziert frei zugängliche Statistiken und Analysen zu Weltanschauungsthemen in Deutschland und international.
Empirische Daten zur Säkularisierung
Dr. Carsten Frerk eröffnete mit “Empirie der Weltanschauungen in Deutschland. Eine Bilanz nach 20 Jahren” den Vortragsblock mit einem Rückblick auf die Geschichte der Forschungsgruppe und ihre Ergebnisse. fowid hat sich in zwanzig Jahren zur anerkannten Quelle für detaillierte Statistiken über Konfessionsfreiheit und Religion entwickelt. Anfangs hielten es Medien noch für nötig, aufs “religionskritische Umfeld” hinzuweisen, mittlerweile wird jedoch die Quellenangabe fowid als ohne Einschränkung seriös erachtet.
Die bekannte “fowid-Torte”, die den Anteil der Konfessionsfreien in Deutschland mit dem Anteil der Angehörigen der beiden historischen Großkirchen vergleicht, zeigte heuer erstmals fürs Jahr 2024 an, dass es mehr Konfessionsfreie in Deutschland gibt als katholische und evangelische Menschen zusammengerechnet. Österreich entwickelt sich in die selbe Richtung, nur zeitlich versetzt.
Die Bundesrepublik hat bei der Wiedervereinigung im Jahr 1990 die zu einem großen Teil konfessionsfreie Bevölkerung der ehemaligen DDR aufgenommen und startete daher von einer anderen Basis. Der Trend der gegenläufigen Entwicklung von evangelischen und katholischen Christ:innen und Konfessionsfreien verläuft in Österreich weitgehend parallel, hier dauert es jedoch noch einige Jahre. (Datenquellen: fowid, Statistik Austria, Österreichische Bischofskonferenz, Evangelische Kirchen, eigene Analysen und Hochrechnung für 2025)
Der Religionssoziologe Prof. Dr. Detlef Pollack sprach über Faktoren der Säkularisierung im internationalen Vergleich und versuchte eine Erklärung mit sozialwissenschaftlichen Hypothesen.
Die Hypothesen nennen unterschiedliche Faktoren, die einzelne Elemente der Säkularisierung erklären. So nimmt mit dem Wohlstand einer Gesellschaft auch die materielle Absicherung zu, was zu einem größeren Angebot an Selbstverwirklichungsmöglichkeiten führt. Die funktionale Differenzierung beschreibt den Vorgang, dass nichtreligiöse gesellschaftliche Funktionen von religiöser Organisationen, wie Gemeinschaft, Arbeitsplätze, gesellschaftlicher Status usw. ihre Bedeutung verlieren und bei der Vereinnahmung z. B. durch politische Kräfte sogar kontraproduktiv wirken können. Gleichzeitig führen Bildung und die leichtere Verfügbarkeit von Information zu Rationalisierung und Individualisierung. Diese Individualisierung erklärt auch eine Meinungsvielfalt innerhalb der Religionsgemeinschaften, die irgendwann so groß wird, dass sie letztlich zur Abtrennung führt. Schließlich wurden historisch die religiösen Vorstellungen durch die Mehrheitsverhältnisse gestärkt: Die heutige Pluralisierung religiöser Ansichten führt jedoch dazu, dass die Plausibilität der ehemals dominierenden Ansicht abnimmt. In einem katholisch dominierten Umfeld neigen Menschen weniger dazu, ihre Ansichten kritisch zu hinterfragen als zwischen mehreren Gemeinschaften nennenswerter Größe, die gleichberechtigt auftreten.
Dr. Edgar Wunder vom Sozialwissenschaftlichen Institut der Evangelischen Kirche Deutschlands stellte die Ergebnisse der 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung vor. Seine Ergebnisse bestätigen die empirischen Erkenntnisse, die fowid regelmäßig publiziert, in einer alle zehn Jahre stattfindenden, dafür aber sehr aufwändigen Studie, die im Jahr 2022 nicht mehr nur die evangelischen Mitglieder, sondern eine repräsentative Stichprobe der deutschen Bevölkerung befragte. Eines der für die Kirchen nicht sehr optimistischen Ergebnisse dieser Untersuchung ist, dass der Wechsel zwischen Religionszugehörigkeit und Konfessionsfreiheit größtenteils eine Einbahnstraße ist: Die “Bestandserhaltung”, also die Zugehörigkeit zu der Gruppe, in der man aufgewachsen ist, war bei den Kirchen zwischen 59 % (evangelisch) und 68 % (katholisch). Dieser Wert liegt bei den Konfessionsfreien bei 92 %. Anders ausgedrückt: Weniger als ein Zehntel jener Menschen, die konfessionsfrei aufgewachsen sind, sind in eine Religionsgemeinschaft eingetreten, während 30-40 % der Kirchenmitglieder im Laufe ihres Lebens zu den Konfessionsfreien wechselten (Auswertungsband zur 6. KMU, Seite 90).
Gesellschaftliche Folgen der Säkularisierung
Der zweite Vortragsblock enthielt ethnographische und juristische Perspektiven auf die Säkularisierung. Prof. Dr. Christoph Antweiler nannte Beispiele aus dem formell säkularen Land Indonesien, in dem es kaum Konfessionsfreie gibt. Sein Fazit: Evolutionär bedingt neigten Menschen dazu, religiös zu denken, daher soll eine säkulare Gesellschaft einen humanistischen, positiven Ersatz für religiöse Gedanken bereithalten.
Ein weiterer Gast aus einer Religionsgemeinschaft war der Religionsverfassungsrechtler Prof. Dr. Ansgar Hense vom Institut für Staatskirchenrecht der Diözesen Deutschlands. Wer von seinem Vortrag “Säkulare Gesellschaft und Staatskirchenrecht” konkrete Aussagen, wie die deutsche Justiz auf die neue Bevölkerungsmehrheit reagiert, erwartet hat, wurde enttäuscht. Er gab einen Überblick über längst bestehende Strukturen, aber keine Hinweise, ob die katholische Kirche irgendwelche Änderungen anstrebt oder die Justiz auf die geänderten Verhältnisse Rücksicht nähme.
Viel mehr Optimismus verbreitete Dr. Jacqueline Neumann vom Institut für Weltanschauungsrecht. Sie wies wiederholt darauf hin, dass die deutsche Verfassung für die meisten strittigen Punkte in Bereichen wie Staatsleistungen, staatliche Einhebung der Kirchensteuer und kirchliches Arbeitsrecht einen sinnvollen Rahmen vorgibt: Es würden einfache Gesetze reichen, um der neuen Realität gerecht zu werden, Eingriffe ins Grundgesetz seien gar nicht nötig. Am Beispiel des Bundesverfassungsgerichts-Urteils im Fall Egenberger wies sie darauf hin, dass die Spruchpraxis des Gerichts sich bereits – auch dank der Vorgaben vom Europäischen Gerichtshof – gewandelt hätte.
Politische Konsequenzen der Säkularisierung
Dr. Michael Schmidt-Salomon moderierte die abschließende Podiumsdiskussion, die vielfältig besetzt war: Neben aktiven Politiker:innen saßen einerseits Philipp Möller, der Vorsitzende des Zentralrats der Konfessionsfreien in Deutschland und am anderen Ende Prälatin Dr. Anne Gidion, Bevollmächtigte des Rates der Evangelischen Kirchen Deutschlands bei der Bundesrepublik, die ihre Position als “Botschafterin” erklärte.
Große Einigkeit war in dieser Runde natürlich nicht zu erwarten. Die Themen kreisten um die Standardprobleme in Deutschland: Staatsleistungen, staatlicher Einzug der Kirchensteuer, bekenntnisfreie Schulen, Zusammenarbeit mit dem politischen Islam. Dr. Gidion überraschte mit der Aussage “Privilegien sind es keine”, als es um Sonderrechte der Kirchen ging, und wollte die US-amerikanischen Evangelikalen nicht als richtige Christ:innen verstanden wissen. Diese “Argumente” wurden von den erfahrenen Diskutant:innen mit Leichtigkeit widerlegt. Ein sich wiederholendes Thema war, dass die Politik mit starkem Zeitverzug auf gesellschaftliche Entwicklungen reagiert und dokumentierte Mehrheitspositionen nicht aufnimmt.
Gedanken für Österreich
Der Kreuzungspunkt der Kurven im Diagramm der Bevölkerungsanteile liegt zwar, anders als in Deutschland, noch in der Zukunft, aber er ist absehbar. Gleichzeitig ist der Islam unter den Religionen an der zweiten Stelle und wächst merkbar, wenn auch deutlich langsamer als die Konfessionsfreien. Auch in Österreich wird sich also eher früher als später die Frage stellen: Werden die Privilegien der Islamischen Glaubensgemeinschaft aufs katholische Niveau angehoben, oder religiöse Vorrechte auf ein vernünftiges Maß reduziert? Kommt regelmäßig die ORF-Übertragung der Predigt aus einer Moschee, Staatsleistungen an die IGGÖ, Konkordate mit islamischen Staaten? Oder doch eine vernünftige, demokratische Politik, die die Interessen Aller über die Privilegien Einzelner, lauter Minderheiten, stellt?